Als Kind konnte ich mich immer gut erinnern. Mit dem Bus kam meine Familie in Gschwend an. Mein Opa Willi wartete schon mit seinem roten VW Polo auf dem Marktplatz auf uns. Am Heck ein Fisch-Aufkleber. Beten und Arbeiten waren zusammen mit seiner Frau Ruth fundamentale Pfeiler ihres zutiefst christlichen Lebens. Über die Landstraße fuhr er uns in das kleine Weiler Dinglesmad, wo er sein kleines Auto mit fünf Personen und vier Gängen gekonnt rückwärts in die kleine Garage manövrierte.
Im Haus roch es derweil schon nach köstlichem Essen. Gastgeberin Ruth war in ihrem Element.
Beten, Essen, Beten, Spaziergang, Singen: So war es bei vielen Familienzusammenkünften der Stettners.
Willi war ein einfacher Mann aus ärmlichen Verhältnissen. Der vierfache Vater und gelernte Wagner arbeitete schnell als Maler. Sein Sohn Jürgen ging später sogar bei ihm in die Lehre. Den Erzählungen nach entwickelte sich hierbei eine tiefe Vater-Sohn-Beziehung. Umso tragischer war es für die Familie, als der 19-jährige Sohn bei einem unverschuldeten Verkehrsunfall aus dem Leben gerissen wurde. Ein alkoholisierter Förster hatte Jürgen und seine Freundin überfahren. Ein schwerer Verlust, den Willi sein Leben lang begleitete und von dem er sich nie ganz erholen sollte.
Schon als Kind auf den Familienfesten merkte ich, wie Willi große Menschenansammlungen zu wider waren. Auch am Ende seiner Malertätigkeit hatte er Angst unter Menschen zu gehen. Er hatte Depressionen. Und ging früher in Rente.
Als seine Frau wegen Demenz ins Altersheim nach Gaildorf kam, genau jener Ort an dem sie jahrelang als Pflegerin gearbeitet hat, verließ auch Willi seine geliebte Heimat Dinglesmad. Um seiner Ruth nahe zu sein.
Es hat mich immer berührt, wie liebevoll Willi sich im Altersheim um sie gekümmert hat. Er schob sie im Rollstuhl durch die Außenanlagen und redete ihr gut zu, auch wenn Ruth schon länger nichts mehr sprach.
Als seine Jugendliebe starb, besuchte Willi seine Frau über acht Jahre hinweg so oft wie möglich mit einem Spaziergang hinauf zum Gaildorfer Friedhof. Nach eigenen Angaben anfangs täglich.
In dieser Zeit habe ich Willi öfters alleine besucht. Wenn der Enkel sich ankündigte, dann wartete Willi mit Stock und Schiebermütze immer schon am Brunnen oder Eingang des Heims auf mich. Nur das Pflegepersonal weiß, wie lange er aus Vorfreude oder Vergesslichkeit schon vor der ausgemachter Zeit dort friedlich saß. Beim Abschied sagte er dann immer: “Miro, es hat mich so gefreut, dass Du gekommen bist”. Ja, ich glaube wirklich: Wir sollten alle mehr Zeit mit unseren Vorfahren verbringen.
An meinem Geburtstag 2017 habe ich mit dem Vater meines Vaters ein großes Interview gemacht, dessen Essenz ich unten angehängt habe. Es war damals die letzte Möglichkeit für mich, mit ihm ausführlich über sein Leben zu sprechen. Denn: auch Willi hatte Demenz.
Die Krankheit schenkte meinem Opa eine wohlige Altersmilde. Er sprach nicht viel, hatte aber immer ein Spruch auf Lager. Er war liebevoll, etwas stur, aber niemals aggressiv. Und er konnte Lachen.
Das war nicht immer so. Willi konnte in seinen depressiven Phasen manchmal laut werden und barsch sein. Meist bekam es meine Oma ab, was damals für mich als Kind, zu Besuch bei den Großeltern, schwer auszuhalten war.
Ich habe mich für Willi unendlich gefreut, dass er noch in seinem Leben diese wichtige Kurve hin zu einem liebevollem Eheman und glücklichem Heimbewohner als Witwer hinbekommen hat.
Vier Wochen vor seinem Tod besuchte ich den 89-jährigen das letzte Mal. Er sprach nicht mehr viel und brauchte Zeit, um mich zu erkennen. Aber diese eine Frage wollte ich ihm unbedingt nochmal stellen: „Willi, hattest du ein gutes Leben?“
„Ich hatte ein gutes Leben.“
Erleichterung. Gute Reise. Willi.
