Sowjetisches Heldendenkmal. Odessa. Ukraine.
Der zentrale Ort mit seinen wuchtigen Steinplatten, unweit der berühmten Potemkinschen Treppe, war um die Jahrtausendwende ein beliebter Skatespot. Nach dem Zerfall der Sowjetunion blieben die Denkmäler noch stehen. Aber neue Subkulturen drangen seit zehn Jahren durch den ehemals eisernen Vorhang. Und wurden sichtbar. So wie die Gruppe Simple Klean – eine lokale Skateboardclique. Darunter auch David.
Mit 17 Jahren nahm ich 2004 an einem Schüleraustausch mit der Waldorfschule Stupeni in Odessa teil.
Mein Skateboard reiste mit. Und ich traute mich damals mit Brett unterm Arm zur Gruppe am Denkmal zu gehen. Alexey, Rishyi, Mougli, Foma, Buratino, David & Co. waren neugierig auf mich: wer war der große Blonde?
David lernte gerade ein wenig Deutsch. Deshalb hatte er sein Handy auf deutsches Menü programmiert. Und er war verärgert, dass ich seine Deutschversuche mit meinem Russisch konterte. Ich wollte die Sprache damals einfach lernen. Es war unsere erste Begegnung und bilinguale Unterhaltung, an die ich mich erinnern kann. Umgeben von Skateboard-Geklapper. Und Autos, die das Denkmal ständig umkreisten.
Eines Tages sollte in einem dieser Autos eine Kamera sein. Sie filmt David ungefragt bei seinen Skate-Tricks am Denkmal. Seitdem ist mein Freund mit dieser kurzen Szene im großartigen Hollywood Film Alles ist erleuchtet mit Elijah Wood in der Hauptrolle zu sehen.
Immer wieder fuhr ich nach der Schule mit überfüllten Kleinbussen ins Stadtzentrum. Die Gruppe traf sich: skatete vor der Oper, am Duma-Platz oder vor dem Theaterhaus Muzkomedija. Immer wieder konfrontiert mit Ordnungswächtern, Security und Polizei.
David war damals optisch eindeutig der Punker der Gruppe: Hart im style. Lange enge Hosen. Als Person immer höflich. Viel am lachen. Kein Alkohol.
Als der Sommer langsam zu Ende ging, war klar: wir werden uns wieder sehen. Ich nahm die Einladung der Gruppe an. Und kam im nächsten Jahr alleine wieder. Dann wieder. Wieder und wieder.
Als ich 2009 ein weiteres Mal nach Odessa kam, wurde die Beziehung zu David dann richtig eng. Ich trat mein Auslandssemester an der Fakultät für Internationale Beziehungen der Mečnikov Universität an. David, genannt Davchik oder Dava, wurde zeitweise mein Mitbewohner in einer kleinen Wohnung unweit vom Bahnhof. Es war ein Free-Space für uns. Wir kauften auf dem größten Basar der Ukraine ein, kochten gemeinsam und lachten viel. Als David und Jakob Aron mit jüdischen Namen ausgestattet, wohnhaft in einer jüdischen Stadt, pflegten wir unseren eigenen „jüdischen“ Humor. Im Duo gingen wir oft spazieren. David zeigte mir die Stadt. Seine Geheimnisse. Seine Personagen.
Mein Freund stand mir ab diesem Zeitpunkt immer mit Rat und Tat sowie wertvollen Kontakten zur Seite. Was für mich damals unglaublich wichtig war. Es entwickelte sich eine tiefe und enge Freundschaft – bis heute. Ich durfte seiner Familie, vielen Verwandten und Freunden von David begegnen. Als Freunde haben wir uns immer wieder Briefe geschrieben. Heute sind es eher Sprachnachrichten. Weil wir uns schätzen, wollen wir am Leben des anderen Teil haben.
Gleichwohl sich die Gruppe Simple Klean in meiner Studienzeit langsam auflöste, blieb das Rollbrett für David weiterhin von Bedeutung. Die Skateboard-Connection funktionierte noch. David und ich trampten 2010 mit unseren Skateboards auf den Rücken durch die Halbinsel Krim. Nachdem David den lokalen Skatepark mit seinen waghalsigen Drop-Ins und seiner eigenen Punk-Attitüde unsicher gemacht hatte, übernachteten wir in Sevastopol bei Skatefreunden. Dann weiter mit dem längsten Oberleitungsbus der Welt von Jalta nach Simpferopol.
Es war eine kleine schöne Reise. Ich konnte David bei solchen Aktionen immer vertrauen. Und bewunderte ihn für seinen Mut und seine Abenteuerlust.
Schon damals war seine zweite große Leidenschaft die analoge Fotografie. So wie der Kameraman vom besagten Film David unbemerkt vor die Linse bekam, besitzt auch er selbst diese Fähigkeit. Sogar ohne beschützende Karosserie.
Aber er musste sich diese Fähigkeiten auf den Straßen von Odessa hart erarbeiten. Mit offenen Augen und einem guten Gespür für Menschen und Situationen, durchstreift er die vielen Parallelstraßen seiner Stadt. Und drückt ab, wenn er den passenden Moment einfangen will. Die Straße ist Davids Fotostudio.
Manchmal sind es nur aggressive Wörter die David von den Abgelichteten zurück bekommt. Einmal waren es sogar Schläge. Von einer Oma mit Gehstock.
Seine Bilder schaffen es 2010 nach Stuttgart. Dort organisiert unser gemeinsamer Freund Philipp die Ausstellung Odessa Mama – Ändere deinen Standpunkt. Es folgen weitere in Schwäbisch Hall, Crailsheim, Heilbronn. In der Ukraine, Italien, Norwegen, Georgien.
Wie sich David auf die Ausstellungen immer vorbereitet?
Mit Disziplin. Pünktlichkeit. Und Verlässlichkeit. Wahrlich deutsche Tugenden. Die David wirklich mag.
Für den (Überlebens)Künstler sprang mit jedem verkauftem Bild oder Postkarte etwas Geld heraus, um seinen minimalistischen Lebensstil zu finanzieren. In Odessa hielt er sich mit alternativen Stadttouren für Touristen oder kleinen Fotojobs für Privatkunden oder Zeitungen über Wasser. Ich habe mich immer gefragt und David bis heute dafür bewundert, wie er das nur macht.
Spätestens als der russische Angriffskrieg am 24. Februar 2022 ausbrach, brach auch diese Einnahmequelle für David weg. Statt Touristen führte er nach Kriegsausbruch internationale Journalisten als Fixer durch Odessa. Und organisierte ihre Reise bis an die neue Front.
Nach langem hin und her mit den Behörden, bekommt David im Herbst 2022 ein Künstlervisum. Er darf 14 Tage lang die Ukraine verlassen, um seine Ausstellung im Freilandmuseum Schwäbisch Hall als geladener Künstler zu besuchen. Seine Freundin Anna begleitet ihn. Die beiden schlafen bei mir. Und kehren nicht mehr zurück nach Odessa. Sie setzen sich zusammen nach Georgien ab. Eine spontane Entscheidung.
Neue alte Heimat: Tiflis in Georgien. David stammt aus Armenien. Ist aber in Georgien geboren und aufgewachsen. Wegen dem Bürgerkrieg in den 90er Jahren, floh er damals mit seiner Familie in die Ukraine. Eigentlich wollte die Familie nach einer gewissen Zeit wieder zurück. Die Zeit kam nicht.
Der Krieg kam. Jetzt ist David wieder in Georgien. Und glücklich darüber.
Sein Alltag: Georgisch lernen. Trampen. Reisen. Mit ausländischen Journalisten arbeiten. Regierungskritische Demonstrationen ablichten. Die landestypischen Instrumente Panduri und Doli spielen.
Fotos schießen. Verkaufen. Ausstellen. Überleben. Künstler. Überlebenskünstler.
Für David in Tiflis, ohne Raketen über dem Kopf, leichter als in Odessa.
