Im Winter 2022 trank ich einen meiner besten Cappuccini ever. Nicht wegen des Geschmacks. Sondern wegen dem guten Gefühl, das ich beim Trinken hatte. Ich war nach einer sehr langen Zeit erstmals in einer Verfassung. Aber der Reihe nach.
Nach längerer Krankheitsphase mit schwerer Depression, will ich mein gewohntes Leben zurück. Nach der Wiedereingliederung in die Arbeit, kommt für mich die Wiedereingliederung in den Urlaub. Hatte mich im Herbst 2021 noch mein Vater nach Sizilien begleitet, will ich es nach Neujahr wieder alleine nach Gran Canaria schaffen.
Typisch für Weihnachten: mir geht es nicht gut. Ängste kommen hoch. Selbst ein möglicher Klinikaufenthalt bespreche ich mit meinem Therapeuten. Mein Umfeld zweifelt, ob das mit der fernen Insel jetzt eine gute Idee ist. Fuck it. Ich wähle die Flucht nach vorn.
Alles ist geplant. Meine tägliche Routine. Mein Notfall-Plan. Mit wackeligen Knien, aber fest entschlossen mir meine Urlaubsfreiheit wieder zu holen, lande ich auf der größten kanarischen Insel. Und checke im mir bekannten HiTide-Hostel ein.
Inspiriert von einem Buch, suche ich am ersten Tag einen Schreibwarenladen. Ich kaufe mir ein schönes Buch mit leeren schwarzen Seiten. Dazu einen weißen Stift und einen Spitzer. An einem anderen Tag, schon etwas angekommen auf der Insel und bei mir, setze ich mich in das Cáfe Basal. Vor mir die Promenade und das Meer. Direkt vor mir: Das Buch, der Stift und der Spitzer.
Wie im Rausch schreibe ich jetzt Seite für Seite Begriffe auf, die für mich wichtig sind. Ich gestalte die Seiten so, wie sie mir gefallen. Nach 13 Seiten ist Schluss. Vor mir liegt meine erste Verfassung.
Werte. Ziele. Überzeugungen: Das, was jahrelang in mir herum waberte, durfte sich gerade in einem kleinen Buch manifestieren. Erleichterung, Ruhe und Stolz halten innerlich Einzug.
Was ist deine Verfassung? Ich hätte nach 36 Jahren erstmals auf diese Frage wirklich antworten können! Es ist die Erklärung dafür, warum der Cappuccino damals so gut schmeckte.
Zurück in Deutschland lag mein Black Book neben meinem Bett. Selten warf ich einen Blick hinein. Der Inhalt war im Laufe der Zeit in mein tägliches Handeln übergegangen. Trotzdem half es mir bisweilen, ob ich mein Leben verfassungskonform gestalte. Oder ich vor mein persönliches Verfassungsgericht muss. Kurz Nachschlagen: Bin ich auf Kurs? Passt. Weiter!
Im Herbst 2023 las ich das unglaubliche Buch 7 Wege zur Effektivität von Sean Convey. Der Bestseller-Autor widmet darin ein ganzes Kapitel dem Thema Verfassungsgebung für Menschen. Er nennt es persönliches Leitbild. Inspiriert davon, wollte ich meiner Verfassung ein Update bzw. eine Erweiterung geben. Dies sollte im Sommer 2024 in der Natur von Schottland passieren.
Mit Rucksack, Zelt und Schlafsack lief ich in Richtung eines verwunschenen Waldes unweit vom Flughafen Edinburgh. Mit völlig durchnässten Schuhen kam ich an und baute mein Zelt auf. Als ich gerade fertig war, begann ein heftiger Regenschauer. Ich legte mich hinein. Die Tropfen prasselten auf die Zeltplane. In der Hand mein schwarzes Buch und ein Goldstift von Alexander, dem Sohn meines Freundes Chris. Ich schrieb einen Text und gestaltete eine Seite mit Symbolen. In einer Stunde war ich fertig. Und zufrieden.
Die Sonne kommt raus. Ich wärme mich auf einem großem Baumstamm auf, tanze im feuchten Farn und gönne mir ein reichhaltiges Abendessen am Fuße des Baumes. Die Abendsonne streichelt mich.
In einer schnelllebigen Zeit, in der sich immer mehr Seelen „Lost“ fühlen, sind Verfassungen, so etwas wie das wertebasierte Rückgrat eines Menschen. Dieser innere Kompass ist eine gewaltige Kraftquelle und besitzt unglaubliche Strahlkraft. Ein Phänomen, das ich bei anderen Menschen mit gelebter Verfassung gerne sehe, spüre und wahrnehme.
Alle Veränderung beginnt immer im Inneren. Und darf sich dann nach außen in die Welt ausbreiten.
Was ist deine Verfassung?
