Wenn ich im Ausland bin, habe ich ab und an die Gewohnheit, Tickets für lokale Sportveranstaltungen zu kaufen. So mal wieder auf Gran Canaria. Intuitiv checke ich auf meinem Handy, wann der lokale Basketballverein, den ich nur aus der Tabellenübersicht aus der deutschen Zeitung kenne, spielt.
Dieses Wochenende. Heimspiel. Real Madrid.
Mein Herz schlägt höher. Mehr noch, als ich sehe, dass es nur noch wenige freie Plätze gibt.
Nach drei Versuchen endloser Klicks und stabilem W-Lan hat es geklappt: Zwei Tickets für den obersten billigsten Rang.
Warum zwei?
Mich kickt es immer, nicht zu wissen, wer dann am Spieltag neben mir sitzen wird. Entweder ich kann bis dahin jemanden finden, mit mir zu kommen. Wenn mir das nicht gelingt, verschenke ich das Ticket vor dem Veranstaltungsort an jemanden, der sonst leer ausgegangen wäre. Diese Überraschung und Freude zu erleben – für ein Geschenk aus dem Nichts – bedeutet mir viel. Und auch ich selbst war bisweilen schon der glücklich beschenkte.
Eines Morgens sehe ich Paula am Strand auf einem Felsen laufen. Ich gehe zu ihr hin und frage sie, ob sie mir mir zum Basketball kommt. Sie muss nicht lange überlegen – Paula sagt sofort zu und hat immer Lust auf Neues.
Ein paar Tage zuvor habe ich die Sizilianerin im Yoga-Studio kennen gelernt. Wie es der nicht mögliche Zufall will, ist ihr und mein Nachhauseweg exakt der Gleiche. Wir laufen die schöne rot gepflasterte Standpromenade Las Canteras entlang. Wir unterhalten uns gut.
Ich gehe durch die Hostel-Tür, Paula nimmt im gleichen Gebäudekomplex den Seiteneingang. Wie klein die Welt doch mal wieder ist. Auch in der Großstadt. Las Palmas.
Spieltag: wir treffen uns schon um 11 Uhr im angrenzenden Park, nehmen anstatt des Busses doch das billige Taxi zum riesigen Betonkasten – der Gran Canaria Arena.
Wir schauen den Mannschaften nah am Spielfeld im unteren Rang beim aufwärmen zu. Die Stars machen uns gut vertraute Yoga-Übungen. Wir genießen, wie sich die Stimmung langsam auflädt. Die Menschen strömen in gelb und blau. Bis alle 11.500 Sitze von heißblütigen Insulanern und ein paar Hauptstädtern besetzt sind. Auch wir finden uns jetzt im Oberrang auf unseren Plätzen ein. Die Halle ist ein großes Familienfest: Vom Baby mit Kopfhörer bis zum Senior mit Krückstock ist alles dabei. Der familienfreundliche Tip-Off um 13 Uhr macht es möglich.
Paula und ich lehnen uns in die Sitze. Wir haben trotz des oberen Rangs eine erstaunlich gute Sicht und genießen die Atmosphäre des Spiels. Die Show in den Spielpausen können wir mit einem Augenzwinkern, bisweilen mit einem lauten Lachen, annehmen. Einmal werden wir Zeuge eines Heiratsantrages im Publikum, später die legendäre Kiss-Cam und dann amüsieren wir uns noch über die Halbzeit-Show. Ein Schlagzeug. Eine Gitarre. Eine Stimme. Alles nicht angeschlossen. Alles Play-back. Alles Show.
Zum Sportlichen: Hier erwischen die einheimischen Granarios einen Sahnetag. Sie fegen den königlichen Tabellenführer aus Madrid mit 100:77 aus der Halle. Die gelben Kanarienvögel spielen frecher, kreativer und leidenschaftlicher. Die europäischen Top-Stars aus der Landeshauptstadt wirken dagegen müde.
Nach dem Abpfiff bleiben Paula und ich noch auf unseren Plätzen sitzen. Bis sich die Halle langsam leert. Bis Ruhe einkehrt. Ein schöner Sonntagnachmittag geht zu Ende.
Einmal werde ich Paula mit ihren schönen langen lockigen Haaren noch treffen. Diesmal spazieren wir die Promenade in die andere Richtung, zum berühmten Opernhaus. Die Italienerin kennt diese roten Steine nur zu gut.
Manchmal steht Paula hier. Sie singt oder spielt Querflöte. Im Hintergrund der Sonnenuntergang über dem Meer. Im Vordergrund ihre große Stimme. Und ein kleines Schild: PLEASE SUPPORT MY DREAM.
Ich habe diesen Moment leider nie live miterleben dürfen. Aber sie schickt mir Videos davon.
Durch die Musik lernt Paula viele Menschen kennen. Und berührt ihr Herz. So wie eine Frau, die vor ihr anfing zu weinen und begann sie innig zu umarmen. „Miro, es ist magisch!”, erzählt Paula von solchen Momenten.
Ich entgegne ihr, wie stark ich das von ihr finde. Und das es echt Mut braucht, sich als Solokünstlerin auf eine so stark frequentierte Promenade zu stellen. Bisher läuft es gut.
Und ich sagte ihr auch schon auf dem Basketball-Spiel: „Paula, irgendwann stehst du in der Halbzeitpause unten auf dem Feld und singst. Aber kein Play-back!“.
„Yes, why not“. Paula hat kein Problem damit, an sich zu glauben.
Sie hat ihr altes Leben in Italien hinter sich gelassen. Sie war Flötenlehrerin an einer Schule und musikalische Assistentin für einen amerikanischen Komponisten in Turin. Als Paula gefragt wurde, ob sie an der Schule bleibt, hat ihr Körper eindeutige Signale gesendet: Nein!
Paula hatte in diesem Moment den Mut, zu ihren Gefühlen zu stehen und es klar ihren Arbeitgebern zu sagen. Auch dann, wenn das erst mal für sie eine ungewisse Zukunft bedeutete.
Eine Freundin lud Paula nach Gran Canaria ein. Sie kaufte ein one-way Ticket und flog. Sie verliebte sich in die Menschen, das Meer und das Wetter. Paula blieb.
In der Hauptstadt Las Palmas macht sie Yoga, macht Musik auf der Straße und ist ausgebildeter Life-Coach, wie sie mir bei unserem langen Abendspaziergang erzählt. Sie lernte bei Luca d’Allesandro in Mailand. Gerade habe sie eine Gruppe als Tutorin online gecoacht, die sie langfristig in ihrer Ausbildung und Entwicklung begleitet. Eine schöne Arbeit. Die ihr Freude macht.
Paula ist momentan glücklich und folgt ihrem Herzen. Auch, wenn sie ihr Zimmer damals bisweilen mit Kakerlaken teilen muss. Mir fällt in diesem Zusammenhang immer der weise Satz den Autors Lars Amend ein: „Lieber ein authentisches Leben auf einer durchgelegenen alten Matratze (und vielleicht mit Kakerlaken in der Wohnung), als ein falsches Leben auf einem goldenen Wasserbett.“
Und was hat Paula, die ihre Heimatinsel Sizilien für eine bessere Zukunft verlassen hat, bisher am meisten vom Leben gelernt: „Du musst dem folgen, was du wirklich fühlst“.
Als ich mit meinem Rollkoffer meine Heimreise zum Busbahnhof antrete, treffe ich Paula ein letztes Mal zufällig.
Natürlich auf ihrer Bühne.
Der roten Promenade.
