Eines Tages lief ich an Olli’s Bar vorbei. Sie macht die besten Cocktails in meiner Stadt und ist bekannt für einen exzellenten Service. Anstatt für Getränke an der Außentafel zu werben, stand dort folgender Satz: „Für Menschen das Edelste und Kostbarste ist die Zeit“.
Diese einfache und doch so einschneidende Erkenntnis gilt für mich seit vielen Jahren. Auch unter dem Gesichtspunkt unserer Endlichkeit, den ich in dem Beitrag Tik Tok behandelt habe, ist sie der Ausgangspunkt fast all meines Handels. Und ich freue mich über jeden, der das schon zu Lebzeiten verstanden hat. Vom Barkeeper bis zum Grundschüler. Warum ist das so?
Ist dir schon mal aufgefallen, dass man für all die schönen Dinge im Leben Zeit braucht? Ich spreche nicht von den zehn Minuten, die ich irgendwo in meinen Alltag gestresst rein quetsche. Ich rede hier von qualitativer Zeit. Wirklich Zeit für gute Begegnungen. Wirklich Zeit für tiefe Freundschaften. Wirklich Zeit für Dich. Wirklich Zeit für Zeit.
Geld kannst Du immer wieder verdienen, gewinnen, finden, vermehren oder erben. Zeit ist dagegen für immer verstrichen.
Ich erkenne wirklich reiche Leute an folgenden Merkmalen: Sie laufen meist langsam und bewusst. Sie sitzen, wenn alle arbeiten, im Café. Sie schauen einfach nur auf die Straße und lächeln. Sie zeigen in demonstrativer Gelassenheit: schaut her, ich bin reich, ich habe Zeit!
In einer schwäbischen Provinzstadt ist solch ein provokantes Verhalten bisweilen noch ein Affront. Wie Du trinkst Cappucino am heiligten Tag, unter der Woche und machst einfach „nichts“? Für die Älteren sind das Einfamilienhaus und der Mercedes, teuer erkauft durch „schaffe, schaffe“, noch die klassischen Insignien von Reichtum. Nur das diese Attribute durch den unbezahlbaren Preis von viel Zeit bezahlt wurden und werden (ein großes Haus will gereinigt werden, ein schönes Auto gepflegt sein), fällt zunehmend erst der jüngeren Genration auf.
Es geht also um das Bewusstsein von Zeit im Alltag. Ich bin für dieses faszinierende Phänomen über die Jahre hinweg sehr sensibel geworden. Weil mir meine Zeit heilig ist, wird vieles geplant und durchdacht.
Ein Beispiel: Mein Mittagsessen nehme ich gewöhnlich in einem italienischen Feinkostladen ein. Wenn ich nicht alleine sein will, lade ich mir einen Freund/Freundin dazu ein. Kurzurlaub in Italien mit bestem Essen, eine schöne Begegnung mit einem geliebtem Menschen und noch Zeit für einen kurzen Mittagsschlaf, weil ich keinen Einkauf und Abwasch machen muss. Wenn ich bei meinen Eltern zur Mittagszeit zu Gast bin, ist es genauso. Die Option mir alles selber zu kochen, was meine Mama oder der Italiener mir anbieten, ist nicht nur aus ökologischer, sozialer und energietechnischer Sicht problematisch, sondern vor allem: zeittechnischer Selbstmord.
Ich reagiere mittlerweile empfindlich, wenn mir jemand bewusst oder unbewusst meine wertvollste Ressource klaut. Da ich jedem Menschen seinen Reichtum in Zeit gönne, versuche ich immer pünktlich zu sein. Bin ich ein paar Minuten zu spät, gebe ich dem Wartendem sofort Bescheid. Ich nehme mir Zeit für Dich bedeutet: ich schätze dich, weil ich dir mein Wertvollstes gebe. Alles andere ist respektlos. Und sollte als solches klar benannt werden.
Wenn Menschen ihr Goldschmuck aus dem Schlafzimmer geklaut wird, gehen sie gewöhnlich zur Polizei. Werden sie dagegen von anderen Menschen am Gold unserer Zeit beklaut, stehen viele bedröppelt da. Und machen gar nichts.
Stattdessen sollten wir eher wie meine deutsche Lieblingssängerin Paula Hartmann denken. Im Song „Nie verliebt“ bringt sie es auf den Punkt: „Wer bin ich, dass du denkst, du hast ein Recht auf meine Zeit?“
Aber nicht nur Menschen wollen an unserer Wertvollstes heran. Auch große Firmen und ganze Unterhaltungsindustrien arbeiten hart daran. Stell dir einen Augenblick lang vor, wie viel Zeit die Menschen für richtige Begegnung hätten, würden sie Instagram, Netflix & Co löschen. Ich bin da nicht weniger anfälliger wie Du. Aber, um gar nicht erst in Versuchung zu kommen, werden diese Aufmerksamkeits- und Zeitfresser bei mir nicht installiert.
Und ich weigere mich, egal wie lange die Schlange ist, im Supermarkt meine Einkäufe selber zu scannen und zu bezahlen, weil ich dadurch angeblich „Zeit“ spare. Es ist ein geschickter Move von Firmen uns in unserer Freizeit Arbeit in Form von Zeit abzunehmen, um selbst Personal zu sparen. Genauso wie alle Fluggesellschaften, die das Einchecken nur 24 bis 4 Stunden vor Abflug erlauben, damit man an seinem letzten Urlaubstag gezwungen ist, sich mit nervigen Formalitäten zu befassen, die ohne Weiteres auch vor Ort am Flughafen mit einem Lächeln am Schalter erledigt werden könnten. Genau dann nämlich, wenn ich eh mein Gepäck aufgeben muss.
Ich mache bei diesem subversiven Zeitspiel nicht mit. Ich zahle gerne mehr Geld, damit ich ich die komplett freie Verfügung über meine Zeit habe.
Stell dir vor, du triffst am Abflugtag einen unglaublichen inspirierenden Menschen am Strand. Willst Du ihm dann sagen: Ich habe jetzt keine Zeit. Ich brauche Netz, ich muss einchecken und suche einen Drucker?
