Ein junger Schotte beschließt in der Slowakei in einen Bus zu steigen. Sein Ziel: die große Ukraine.
Seit die Berliner Mauer gefallen ist, fasziniert ihn der postsowjetische Raum. Das Unbekannte. Das Andere. Die Herausforderung.
Und wenn er ehrlich ist, hat der Reisende auch Angst davor.
Chris, so sein Name, kann kein Kyrillisch. Nichts lesen. Nichts sprechen. Kein Wort. Trotzdem setzt er sich 2007 in den Bus und passiert die Grenze in den Osten. In der ukrainischen Kleinstadt Uschgorod steigt er aus. Ein Mann kommt auf ihn zu. Chris versteht nicht, was er sagt. Aber seine Gesten kommen trotzdem an. Dem Unbekannten gefällt der wilde Bart des Schotten nicht. Er solle sich rasieren, glaubt Chris zu verstehen. Willkommen in der neuen Welt!
Der Reisende fährt weiter in die westukrainische Großstadt Lemberg und checkt ins damalige Hostel Kosmonaut ein. Ein junger Deutscher bestellt für ihn mit einem Mix aus ukrainisch und russisch einen Kebap. Der 20-jährige Deutsche war ich. Und es war unsere erste bewusste Begegnung.
„Schon meine Mutter hatte ein Reiseherz“, erzählt mir Chris. Die Schottin hatte einige Backbacking-Trips in den Beinen. Und wenn sie zusammen Ausflüge gemacht haben, nahm der kleine Chris immer alles Abenteuerliche in seinem Rucksack mit: Pflaster. Lupen. Reiseliteratur.
Die Schule war dagegen weniger aufregend. Und als er mit 17 Jahren einen Bürojob bei einer Versicherung antrat, waren wirkliche Abenteuer weit weg. Er fühlte sich gefangen. Eine Nummer unter vielen. Er musste ausbrechen. Chris kündigte.
Mit 22 Jahren lebte er seinen Travel-Lifestyle: Unabhängig. Frei. Selbstbestimmt. Diese Lebensweise führte ihn für mehrere Jahre in unzählige Länder und zu großartigen Menschen. Viele davon mit Reiseherz.
Anschließend probierte Chris es nochmal in Schottland mit dem College. Er brach wieder ab. Denn Chris war klar: Seine Bildung für sein Leben bekommt er nicht im Hörsaal. Sondern von seinen Reisen.
Chris zog also wieder los in Welt.
Mein Freund ist ein sehr ruhiger und angenehm freundlicher Zeitgenosse. Entsprechend ist auch sein Reiseverhalten. Chris steht auf Slow Travelling. Weniger unterwegs, mehr an einem Ort. Oftmals immer wiederkehrend.
In dieser Zeit begegnen wir uns immer wieder: in Edinburgh, Odessa und Olmütz. Letztere Kleinstadt in der tschechischen Republik ist zu einem Lieblingsort von Chris geworden. 2012 führt er hier für eine Weile ein Hostel. Der Schotte war in dieser Zeit lange von seiner Heimat weg. Dann will er nach Hause. Aber nicht mit dem Flugzeug. Viel langsamer. Soweit die Füße tragen. Bis nach Schottland.
Zuvor hatte Chris noch nie so lange Fußmärsche gemacht. Als er im August aufbricht, zahlt er schnell Leergeld: Blasen an den Füssen. Zu viel Ehrgeiz. Zu viel Gepäck.
„Reisen zeigt dir, aus welchem Material du bist“, weiß Chris heute. „Du hast Angst. Deine Kleider sind nass. Du fühlst dich einsam. Du liegst nachts im Zelt und hörst ein Geräusch. Wahrscheinlich ist es eine Maus. Du denkst aber, es ist bestimmt ein Bär!“, erinnert sich mein Freund.
Am Anfang ist alles aufregend. Trotzdem stellt sich für Chris auch bei diesem Abenteuer so etwas wie eine Routine ein. Im Oktober hat er sich von Tschechien bis nach Schwäbisch Hall vor gelaufen. Es war damals eine große Freude für mich, dass ich meinen Freund fünf Tage bei mir beherbergen durfte. Das Programm: Warm duschen. Gut essen. Gemütlich ausruhen. Und natürlich zeigte ich Chris meine geliebte Heimat: Feiern. Ausflüge. Fußballspiele auf dem Land.
Als der Wanderer gestärkt wieder aufbricht, begleite ich ihn die ersten Kilometer auf seiner Strecke bis zum Freilandmuseum Wackershofen. Und entlasse meinen Freund nach einer kräftigen Umarmung dann auf den zweiten Teil seines Abenteuers. Über Frankreich und Belgien kommt er mit der Fähre nach England. In der Nähe von Yorkshire kommt er überraschenderweise in einen Schneesturm. Chris verliert einen Handschuh. Er hat kein Geld mehr. Und ist für solche Wetterbedingungen nicht ausgerüstet. Nach sechs Monaten auf den Beinen, kauft ihm seine Mutter ein Zugticket nach Edinburgh. Und bringt ihn so sicher zurück in sein geliebtes Schottland.
Wer mehr von diesem Abenteuer lesen will, empfehle ich Chris’ Blog, dem Vagabunden im Schottenrock.
Rückblick: Eine Woche auf diesem Wander-Trip lief Chris mit Anne durch Frankreich. Die beiden kannten sich schon länger. „Wenn du eine Woche so eng zusammen bist, führt das entweder schnell zum Konflikt oder es bringt dich enger zusammen“, so Chris. Es war quasi der Beziehungstest. Beide bestanden. Die Amerikanerin und der Schotte daten sich aus der Distanz. Und innerhalb eines Jahres heiratet Chris seine Frau. Natürlich reisen die beiden erst mal zwei Jahre: Marokko, Portugal, Spanien, Bosnien & Herzegowina und durch den gesamten Balkan.
Dann bekommt Anne ein gutes Jobangebot aus ihrer Heimat. Das Paar zieht nach Nashville. Ihr gemeinsamer Sohn Alexander wird geboren.
Die Entscheidung in die Staaten zu gehen war einfach, die Realität für Chris aber viel härter.
Sein GreenCard-Antrag geht nicht voran. In Bundesstaat Tennessee herrscht unglaubliche Hitze. Der Schotte kennt hier niemanden. Und hat keinen Führerschein. Weil er das Land wegen der Bearbeitung des Antrags nicht verlassen darf, fühlt sich der weitgereiste Globetrotter gefangen.
„Harte Zeiten prägen den Charakter von Menschen“, ist Chris überzeugt. Wie meistens, kann er in seiner ruhigen Art jeder Situation etwas Positives abgewinnen. Und schiebt hinterher: „Glück ist einfach – sei zufrieden mit dem was du schon hast“.
Nach der Corona-Zeit zieht die junge Familie nach South Queensferry in Schottland. Anne arbeitet hier remote nach amerikanischer Zeit. Chris ist Hausmann. Alexander geht zur Schule. Als ich 2024 die drei besuche, fühle ich mich sofort wohl. Der damals 7-jährige Alexander hat eine wunderbar schöne sensible Seele.
Wie mein Freund als Vater seinem Sohn Geschichten aus fernen Ländern erzählt, ihn zur Schule bringt, Essen für die Familie kocht – das alles hat mich sehr berührt.
Auch wie sich der Kreis zu seiner geliebten Mutter schließt, wenn Chris seinen Sohn zu Camping-Trips in umliegende Wälder mit nimmt. Für gemeinsame erste Abenteuer. Leben kommt von erleben.
Und wenn Chris nicht am Strand seiner Heimat nach Seeglas sucht und es zu wundervollem Schmuck verarbeitet, den er in seinem Shop Sea & Saltire verkauft, kann man ihn regelmäßig auf einsamen schottischen Inseln treffen. Mit seiner Frau hat er ausgemacht, dass er einmal im Jahr mindestens drei Wochen am Stück für sich alleine braucht. Während sich seine Frau dann um Alexander kümmert, kümmert sich Chris dann um sich.
Er brauch dafür nicht viel: Rucksack. Natur. Und sich selber.
