Ich sitze im Bordrestaurant des ICE nach Berlin. Am Tisch gegenüber sitzt ein junger Mann mit blauem Pulli. Eigentlich wollte er schon gestern in diesem Zug sitzen. Es kam anders. Und es war gut so.
Sein Name ist Steven. Er ist Amerikaner. Aus Los Angeles. In Europa will er seine deutschen Freunde in Berlin besuchen. Er steigt in München in den Zug. Verwundert über andere Halte, die am Bildschirm angezeigt werden, fragt er nach 30. Minuten einen Mann. Steven weiß jetzt: Er sitzt im Zug nach Wien.
Der alte Mann entgegnet ihm, „no worries“. Steven solle bis Wien fahren. Er könne bei ihm übernachten.
Der junge Amerikaner entscheidet sich im falschen Zug zu bleiben. Obwohl er noch nicht mal den Namen des Mannes kennt. Und es bis zum Ende der Begegnung nicht erfahren wird. Nur zu viel: Er ist 85 Jahre alt, Professor, seine Frau ist verstorben und er hat zwei Töchter.
Ankunft Wien Hauptbahnhof. In der Nähe residiert der alte Professor. Entsprechend repräsentativ, groß und mit vielen Gemälden an der Wand. Steven zeigt mir ein Video auf seinem Handy. Er fragt mich, ob dieser Standard in Wien oder Europa normal sei. Ich verneine.
Was der Professor beruflich macht bzw. machte, weiß Steven auch nicht. Er traut sich nicht zu fragen. Sein spontaner Gastgeber scheint aber definitiv wohlhabend und einflussreich zu sein.
Vor der Tür wartet ein Taxi. Für das gemeinsame Abendessen geht es in ein großes nobles Restaurant.
Steven wollte nie nach Wien. Plötzlich sitzt er in der Stadt zusammen mit einem ominösen Professor und unterhält sich mit ihm über das Leben. Zuvor war er ein unscheinbarer Mitreisender im Zug. Entgleisungen des Alltags. Begegnungen für immer.
Er könne jederzeit wieder bei ihm an der Türe klingeln, gibt der alte Mann dem Amerikaner am nächsten Morgen noch mit auf dem Weg.
Steven unternimmt den zweiten Versuch Richtung Berlin. Diesmal sitzt er im richtigen Zug. Und erzählt mir im Bordrestaurant diese schöne Geschichte vom Vortag.
Jetzt frage ich ihn nach seiner Geschichte: Steven ist Jude. Mit Wurzeln in Belarus. Aufgewachsen ist er in Orange County. 15 Jahre war er Maler für Häuserfassaden. Danach hat er als Friseur gearbeitet. Und laut eigenen Angaben, die C-Prominenz von Hollywood frisiert.
“Ich habe von meiner jüdischen Identität alles Kreative behalten. Die Traditionen nicht”, gesteht Steven mir. Kultur im weitesten Sinn, Malerei sowie analoge Fotografie im Speziellen, sind sein Fokus.
Aus seinem Rucksack zieht der Künstler gleich vier Kameras hervor: eine analoge Argus C 3 sowie eine Nikkon, eine Einwegkamera und eine Instax Polaroid.
Mit letzterer hatte Steven zuvor ein Fotoshooting in Venedig. Die Models trugen Masken. Er geht seinen Bilderstapel im Bordrestaurant durch. Und schenkt mir eines. Und macht noch ein Polaroid von mir.
Bei veganer Currywurst, Pommes und Bier nähern wir uns langsam Berlin. Und sprechen über Hip-Hop. Wir müssen unglaublich lachen, als Steve versucht, das Wort Deichkind zu sagen. Die Band war vor fast 25 Jahren sein erster Berührungspunkt mit deutschem Sprechgesang. Das Album hieß damals: Bitte ziehen sie durch.
Steven hat auch durchgezogen. Im falschen Zug. Er rief daraufhin seine Freunde in Berlin an. Sie bräuchten heute nicht am Bahnsteig auf ihn warten. Er sitze im falschen Zug. Nach Wien. Und ziehe durch.
Steven darf seine Freunde in Berlin einen Tag später am Bahngleis umarmen.
Mit einer neuen Begegnung im Gepäck.
