Als ich 2007 wegen meinem Studium nach Bremen kam, brauchte ich unbedingt ein Fahrrad. Ich wurde auf einen Flohmarkt sofort fündig. Weißes Holland-Rad. Marke: Sparta.
Der nette Verkäufer schrieb mir mit etwas krakeliger Schrift einen Kaufvertrag. Auf einem karierten Din-a4-Papier.
Nach ein paar Wochen hatte ich mit meinem gebrauchtem Drahtesel ein Problem. Ich besuchte „Betale Misto“, wie er sich auf dem Kaufvertrag nannte, in einer Bremer Hochhaus-Siedlung.
Das Problem war schnell behoben. Der schlanke Mann mit dunklem Teint hatte sein Versprechen gehalten. Ich liebe solche Menschen!
Betale lädt mich anschließend noch zum Abendessen ein. Er ist Kurde, kommt aus Afrin in Syrien und wollte in Deutschland ein neues Leben in Freiheit, erzählt er mir. Anfangs war er Küchenhilfe im asiatischen Restaurant. Später war er Hafenarbeiter. Be- und Entladung von Containern. Schwere körperliche Arbeit. Weil das Geld knapp war, steht Betale auch am Wochenende mit Fahrrädern und Ersatzteilen auf den Flohmärkten der Hansestadt. Irgendwann aber, werde er seinen eigenen Fahrradladen haben.
Spätestens als ich den köstlichen selbst gemachten Joghurt von Betale auslöffele, wurde mir klar: an diesem Abend hatte ich einen neuen Freund gefunden.
Drei Jahre später fahre ich die Straßenbahnlinie 4 in Richtung Borgfeld. Ich schaue verträumt aus dem Fenster und werde plötzlich hell wach. „Misto’s Fahrradladen“ steht es groß an einer Hauswandfassade.
Während ich ein Jahr im Auslandssemester in der Ukraine war, hatte mein Freund seinen Worten wieder mal Taten folgen lassen.
Vom einfachen Hafenarbeiter zum stolzen Besitzer eines Fahrradladens. Misto macht’s möglich.
Der Laden wird angenommen. Er vergrößert sich schnell. Die Kunden schätzen vor allem den exzellenten Service. Der stolze Kurde hat sich alles selbst aufgebaut. Es war und bleibt harte, ehrliche Arbeit. Auch an vielen Wochenenden.
Anfangs schraubt Betale selbst in der Werkstatt. Heute hat er Mitarbeiter. Der Besitzer muss an der Ladentheke koordinieren, bedienen und bestellen. Und natürlich schauen, dass er am Ende des Monats seine Mitarbeiter bezahlen kann.
Nach einem langen Arbeitstag mit vielen Menschen um ihn herum, fährt Betale mit seinem Fahrrad am liebsten zu seiner Parzelle nach Oberneuland. T-Shirt aus. Hände dreckig machen.
Natur, Gartenarbeit und Ruhe ist Betale’s Anti-Stress-Mittel erster Wahl. In den Sommermonaten übernachtet er fast durchgehend in seiner kleinen Hütte in der Kleingartensiedlung.
Mein Freund hat mir bei unseren vielen Gesprächen immer wieder gesagt: „Miro, ich hätte in meinem Leben als junger Mensch so gerne studiert“. Da wir die Zeit niemals zurück drehen können, haben Betale und ich zusammen versucht, schöne Zeit nachzuholen. Wir sind oft zusammen auf Studienreise gegangen. Ohne zu studieren.
Hier eine kurze Auswahl: In Schottland haben wir zusammen eines unserer schönsten Sylvester gefeiert. In Kroatien hat uns die Sonne auf einem FFK-Camping-Platz verwöhnt. In der Ukraine haben wir wilde Partys besucht und durften eine unglaublichen Hochzeit auf dem Lande erleben. Durch die Niederlande sind wir fünf Tage im Regen mit dem Fahrrad von Amsterdam bis nach Bremen gefahren – vorbei an endlosen Deichen und unzähligen Schafen. In Barcelona jubelten wir im legendären Camp Nou, dem größten reinen Fußballstadion der Welt. Und zusammen haben wir im tschechischen Olmütz viele tolle Teekeller und tschechisches Bier probiert.
Aber auch an unserer ersten Begegnungsstätte Bremen haben es sich Betale und Miro immer gut gehen lassen. Egal ob auf einer Kohlfahrt, im Weserstadion oder auf der Parzelle mit leckerem Gemüse und Fisch auf dem Grill – Betale weiß, wie man das Leben, abseits von Arbeit und Stress, genießt. Eine Fähigkeit, die ich sehr an ihm schätze. Und die unsere Reisen und unsere gemeinsame Zeit immer entspannt gemacht haben.
Genauso wie unsere vielen Gespräche über unsere jeweils persönliche Lebenssituation. Die Kurdistansituation. Die Weltsituation.
Heute ist mein Freund mit der lieben Roshin aus seiner Heimat verheiratet. Zusammen haben sie die beiden friedliebenden Kinder Aland und Pela zur Welt gebracht. Zusammen lebt die Familie in einer frisch renovierten Doppelhaushälfte direkt gegenüber Misto’s Fahrradladen.
Ich glaube, Betale und ich sind uns als Menschen sehr ähnlich. Wir brauchen unsere Ruhe. Unsere Freiheiten. Unseren Spaß.
Ich habe vor Betale’s Lebensleistung unglaublichen Respekt. Der Mann, der schon in Libyen Uhren und Brillen verkauft hat, könnte wohl in jedem Land von Null anfangen. Und würde durch ehrliche und harte Arbeit seinen Weg gehen.
Da Betale das Wetter in Bremen nicht mag, schlug er mir einmal vor, zusammen irgendein Business in Spanien oder Portugal zu eröffnen. Manchmal habe er Lust, nochmal ganz von vorne anzufangen. Ich sagte meinem Freund ab. Aber ich habe keinerlei Zweifel, dass Betale es schaffen würde.
Ein Mann. Ein Kaufvertrag. Ein Wort.
Ich liebe diesen Menschen!
